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"In Tablet-Klassen kann der Unterricht offener, forschender und projektbezogener gestaltet werden" | Lehrende der Zukunft | bpb.de

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"In Tablet-Klassen kann der Unterricht offener, forschender und projektbezogener gestaltet werden"

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"Bring Your Own Device" statt Smartphone-Verbot: Im Interview spricht der Physiklehrer Patrick Bronner über das von ihm entwickelte Medienkonzept des Friedrich-Gymnasiums in Freiburg, für das die Schule 2016 mit dem Deutschen Lehrerpreis ausgezeichnet wurde.

Der Mix macht's: Am Friedrich-Gymnasium Freiburg ergänzen sich digitale und analoge Methoden. (© Friedrich-Gymnasium Freiburg)

Kurz und Knapp:

  • Das Medienkonzept des Friedrich-Gymnasium Freiburg umfasst sowohl die Nutzung von Apps auf mobilen Endgeräten als auch die Anwendung digitaler Lernplattformen.

  • Lernplattformen unterstützen laut Bronner binnendifferenzierten Unterricht, bei dem einzelne Schülerinnen und Schüler individuell gefördert und beraten werden können

  • Durch die Nutzung von Apps lässt sich der Unterricht wiederum offener, forschender und projektbezogener gestalten.

  • Bronner plädiert für eine ausgewogene Mischung von analogem und digitalem Unterricht.

Von 2015 bis 2017 führte das Friedrich-Gymnasium Freiburg ein umfassendes Medienkonzept ein. Was war der Auslöser für den digitalen Wandel?

Patrick Bronner: Die Medienausstattung am altsprachlichen Friedrich-Gymnasium in Freiburg war noch im Jahr 2015 zum Verzweifeln: In den 30 Klassenzimmern standen verstaubte Overheadprojektoren und es gab einen Computerraum mit 15 langsamen Rechnern. Vor allem unsere jungen Kolleginnen und Kollegen forderten, dass jedes Klassenzimmer eine zeitgemäße Medienausstattung mit Beamer, Computer, Dokumentenkamera und interaktivem Whiteboard erhalten sollte. Die dafür notwendige Investition von über 200.000 Euro wurde jedoch vom Schulträger abgelehnt. Not macht bekanntlich erfinderisch und so kam im Kollegium die Idee auf, die Mini-Computer im Unterricht zu nutzen, die nahezu jede Schülerin und jeder Schüler und auch alle Lehrerinnen und Lehrer stummgeschaltet in ihren Taschen haben: Smartphones.

Zunächst haben meine Physik-Abiturientinnen und Abiturienten selbst erforscht, welche Möglichkeiten das Smartphone im MINT-Unterricht bieten kann. Die vielfältigen Ergebnisse wurden im Mai 2015 bei einer Ausstellung präsentiert. Danach fragte selbst der Lateinlehrer, wie auch er das Smartphone für seinen Unterricht nutzen könne. Zur Erprobung wurden im Schuljahr 2015/16 Smartphones gemäß des "Bring Your Own Device Konzepts" für den Unterrichtseinsatz in allen Fächern zugelassen. Anfang des Schuljahres 2016/17 erhielten alle 30 Klassenzimmer eine fest installierte Medientechnik für mobile Endgeräte mit Beamer, WLAN, Streaming-Box und Tablet-Halter. Auf die Anschaffung von Dokumentenkameras und interaktiven Tafeln haben wir bewusst verzichtet – denn wie unsere erfahrenen Kolleginnen und Kollegen bereits im Vorfeld bemängelt hatten, kann damit die im neuen Bildungsplan von Baden-Württemberg geforderte Individualisierung und binnendifferenzierte Förderung jedes einzelnen Lernenden mit zeitgemäßen Medien nicht umgesetzt werden. Stattdessen erhielten alle Lehrerinnen und Lehrer ein eigenes Tablet mit Stifteingabe. Seit dem Schuljahr 2017/2018 wird nun jedes Jahr die gesamte 7. Klassenstufe mit Schüler-Tablets ausgestattet. Die Finanzierung der Schülergeräte erfolgt momentan über einen Modellversuch des Kultusministeriums – später führt an einer sozialverträglichen Elternfinanzierung leider kein Weg vorbei.

Welchen Nutzen haben Lernplattformen und Apps an Ihrer Schule in den verschiedenen Fächern?

Wir nutzen derzeit für den binnendifferenzierten Unterricht Lernplattformen in den Fächern Englisch, Deutsch und Mathematik. Als Mathematiklehrer kann ich den Lernfortschritt der einzelnen Lernenden live mitverfolgen, die Schülerinnen und Schüler individuell beraten und ihnen mit wenigen Klicks geeignete Übungsaufgaben digital zuweisen. In den MINT-Fächern können unsere Schülerinnen und Schüler über eine App beliebige Messwerte (Magnetfeld, CO2 , EKG, GPS, … ) über interne und externe Sensoren aufnehmen. Das ist nicht nur im Unterricht, sondern auch im Alltag der Lernenden oder zu Hause möglich.

Patrick Bronner (© privat)

In den Fremdsprachen wird bei uns der Unterricht mit Erklärvideos teilweise umgekehrt: Die Erarbeitung von neuem Wissen erfolgt zu Hause – im Unterricht bleibt dann viel mehr Zeit zum Üben. Die Videos werden dabei teilweise auch von den Schülerinnen und Schülern selbst erstellt, wodurch sie sich noch aktiver mit dem Lernstoff auseinandersetzen. Im Musikunterricht müssen sich nicht mehr 30 Schülerinnen und Schüler den Flügel teilen, sondern jeder Schüler und jede Schülerin hat per App eine Klaviertastatur vor sich und kann so individuelle Musikstücke mehrstimmig komponieren, aufnehmen und teilen. Mit freien Wissensquiz-Apps kann schließlich in allen Fächern das Vorwissen der Schüler oder der aktuelle Lernstand schnell und motivierend ermittelt werden.

Wie fördert die Arbeit mit dem Tablet das selbstbestimmte Lernen?

In Tablet-Klassen kann der Unterricht viel offener, forschender und projektbezogener gestaltet werden. So sollten die Schülerinnen und Schüler der Klassenstufe sieben zum Beispiel im Mathematikunterricht kurz vor den Sommerferien ein Erklärvideo zur Frage "Wie viel Mathematik brauchst Du im Urlaub?" produzieren. Bei einem solchen Arbeitsauftrag erleben die Schüler einen hohen Grad an Kreativität, Handlungsorientierung und Selbstbestimmung. Außerdem wird das gemeinschaftliche Lernen unterstützt: Vor allem in heterogenen Lerngruppen werden sowohl leistungsschwache als auch leistungsstarke Lernende entsprechend ihres Vorwissens, ihres Lerntempos und ihres Leistungsvermögens gefördert. Zum Abschluss des Projekts geben sich die Schüler über ein vorher gemeinsam festgelegtes Bewertungsraster gegenseitig über ihr Tablet eine Rückmeldung zum erstellten Video. Der Lehrer selbst hat dabei Zugriff auf alle Daten und kann während der Methode der Selbst- und Fremdbewertung sofort pädagogisch eingreifen.

Wie haben Ihre Schülerinnen und Schüler die Nutzung der digitalen Medien im Unterricht angenommen?

Wenn ich die Schülerinnen und Schüler vor die Wahl stelle, die Hausaufgaben am Tablet oder im Heft zu machen, wählen alle die digitale Variante. Ob diese Motivation über Jahre anhält, bleibt allerdings abzuwarten. Vor allem aber zeigt sich die hohe Identifikation der Lernenden mit ihrem Gerät: Auf ihrem eigenen Smartphone oder Tablet möchten sie möglichst gute Messergebnisse erzielen – zum Beispiel wenn es darum geht, GPS-Daten aufzunehmen, um daraus den Erdumfang zu berechnen. Wenn es dann allerdings um die Auswertung der gemessenen GPS-Koordinaten mit sechs Nachkommastellen geht, stöhnen auch die begeistertsten Schülerinnen und Schüler laut auf.

Gab es auch negative Stimmen bei der Einführung von WLAN, Smartphones und Tablets?

Am Anfang war vor allem die Diskussion um gesundheitliche Risiken durch die WLAN-Strahlung eine große Herausforderung. Wir haben daher Möglichkeiten gesucht, die Strahlenbelastung im Schulgebäude so gering wie möglich zu halten: Jedes WLAN-Gerät wurde mit einem Schalter ausgestattet und darf nur dann im Unterricht aktiv sein, wenn es erforderlich ist. Gleichzeitig wurde die Sendeleistung des Wlan-Netzes stark reduziert. Zudem können bei eingeschaltetem WLAN-Gerät die Schülerinnen und Schüler ohne die Freigabe durch den Lehrer das Internet nicht nutzen.

Eine völlig neue Erfahrung für uns war die Angst vieler Eltern vor der Übermacht der Geräte und vor der Inkompetenz im Umgang damit. Diese Skepsis war zunächst viel größer als das Bewusstsein dafür, dass ihre Kinder ja auch einen Nachteil im Leben haben könnten, wenn die Schule nicht digital genug arbeitet. Expertinnen und Experten sprechen in diesem Zusammenhang sogar von der "German Angst 4.0". Bereits drei Wochen nach Ausgabe der ersten Schüler-Tablets hagelte es beim Elternabend massive Kritik: "Es ist kein Lernzuwachs mit Tablets erkennbar", "Es fehlt ein didaktisches Konzept" oder "Die Lehrerinnen und Lehrer wirken überfordert." Auf manche der Aussagen konnten wir nur antworten: "Ja, das ist momentan noch so. Wir probieren aus, wir lernen selbst täglich dazu. Ein pädagogisch nachhaltiges didaktisches Konzept entwickeln wir Schritt für Schritt mit der zunehmenden Unterrichtserfahrung."

Für welche Altersgruppen eignet sich die Nutzung von Smartphones oder Tablets im Unterricht?

Der Einsatz von mobilen Endgeräten im Klassenzimmer sollte vom Entwicklungsstand der Kinder und somit von der Klassenstufe abhängig sein. An unserer Schule arbeiten die Schülerinnen und Schüler in Klasse fünf und sechs weiterhin ganz klassisch und nutzen Hefte, Bücher und Stifte. Die Lehrer bedienen sich zur Stoffvermittlung durch den Einsatz des Lehrer-Tablets der Vielfalt der Medien. In den Klassenstufen 7-9 steht bei den Schülerinnen und Schülern neben den traditionellen Lernmitteln auch differenziertes und selbstständiges Arbeiten am eigenen Tablet auf dem Programm. In der Oberstufe (Klasse 10-12) können gemäß des BYOD-Konzepts die schülereigenen Smartphones oder Tablets im Unterricht eingesetzt werden. Wichtig ist uns, dass die Verwendung von mobilen Endgeräten nur auf den Unterricht beschränkt ist. In den Pausen ist die Nutzung für alle Klassenstufen verboten.

Welche Rolle spielt das Thema digitale Medienkompetenz im Rahmen Ihres Medienkonzepts?

Damit die Schülerinnen und Schüler Kompetenzen zum verantwortungsvollen Umgang mit den neuen Medien erwerben, wurden am Friedrich-Gymnasium gemeinsam mit der Schulsozialarbeiterin verschiedene Maßnahmen erarbeitet: Im Rahmen von digitalen Projekttagen erhalten die Klassenstufen fünf bis sieben Workshops zum Datenschutz und zum sicheren Umgang mit dem Internet. In Kooperation mit dem Landesmedienzentrum Baden-Württemberg erfolgte die Ausbildung von zwölf Schülerinnen und Schülern der neunten Klasse zu Medienmentorinnen und -mentoren, die mittlerweile eigene Workshops zum Beispiel zum Umgang mit sozialen Medien anbieten. Für die Eltern bieten wir einmal jährlich spezielle Elternabende mit Expertenvorträgen zur Mediennutzung an.

Mit welchen Kosten muss eine Schule zusätzlich zu den Geräten rechnen?

Digitale Bildung ist eine teure Angelegenheit: Zunächst benötigt jede Schule ein stabile LAN-Verkabelung, leistungsfähige WLAN-Geräte, einen kompatiblen Schulserver sowie ein datenschutzkonformes Mailsystem für Schüler, Lehrer und Eltern. Aufgrund der schnell zunehmenden Anzahl der Endgeräte und der datenintensiven Übertragung von Lernvideos ist eine Glasfaseranbindung nach außen dringend zu empfehlen. Neben der digitalen Infrastruktur kommen laufende Kosten hinzu: Der Zugang zu Lernplattformen kostet bis zu zehn Euro, ein digitales Schulbuch liegt bei vier Euro – beides pro Schüler, pro Fach und pro Schuljahr. Die Mobilgeräteverwaltung kostet jährlich pro Gerät zwölf Euro und der Glasfaseranschluss kommt für monatlich 120 Euro dazu.

Was ist Ihre Bilanz des Modellprojekts: Was spricht für digitale Medien im Unterricht – und wo sind die Grenzen der Nutzung?

Wir erleben derzeit eine Digitalisierung aller Lebens- und Arbeitsbereiche. Als Schule müssen wir die Schülerinnen und Schüler so gut wie möglich auf diese neuen Herausforderungen vorbereiten. Dazu gehört der souveräne Umgang mit der digitalen Technik, die Diskussion der Chancen und Risiken sowie das Erlernen von Kompetenzen zum verantwortungsvollen Umgang mit den Medien. Aktuell evaluiert das Hector Institut für Bildungsforschung unseren Schulversuch, um herauszufinden, wie sich das Lernen mit Tablets auf die Motivation, die Leistungsbereitschaft und den Wissenszuwachs von Schülern auswirkt. Wir hoffen, dass sich am Ende sowohl ein medienspezifischer als auch ein fachlicher Mehrwert zeigen wird.

Die neuen Medien sollten jedoch auf keinen Fall als Allheilmittel für guten Unterricht gesehen werden: Der Einsatz von Smartphones und Tablets ist nur eine von vielen Möglichkeiten, den Unterricht noch besser zu machen. Wir wollen weder die Abschaffung der Kreidetafel noch die papierlose Schule. Nach jeder Hausaufgabe auf dem Tablet gebe ich eine Hausaufgabe im Heft auf. Es kommt auch bei uns auf die ausgewogene Mischung von analogen und digitalen Unterrichtsinhalten an. Der absolute Erfolgsfaktor für guten Unterricht ist und bleibt der motivierte und engagierte Lehrer – egal ob mit oder ohne Smartphone

Wie geht es weiter mit der Nutzung von digitalen Tools am Friedrich-Gymnasium?

Der Weg zur digitalen Schule ist am Friedrich-Gymnasium noch längst nicht abgeschlossen: Derzeit arbeiten wir an der Vereinfachung von vielen Verwaltungstätigkeiten zum Beispiel durch die Einführung eines digitalen Klassenbuchs. Mit den täglichen Erfahrungen im Klassenzimmer, der Nutzung von immer mehr Lernplattformen, dem Einsatz von neuen Sensoren und der Erprobung neuer Technologien wie zum Beispiel Virtual- oder Augmented-Reality entwickelt sich der digitale Unterricht und damit die Schule ständig weiter. Mithilfe von relativ kostengünstigen VR-Headsets für Smartphones haben unsere Schülerinnen und Schüler beispielsweise im Physikunterricht bereits einen Ausflug zur Raumstation ISS gemacht, im Geschichtsunterricht Maya-Ruinen in Mexiko besucht und im Fach Biologie eine Reise zum Great Barrier Reef vor Australien unternommen.

Zum Autor:

Dr. Patrick Bronner ist Lehrer am Externer Link: Friedrich-Gymnasium Freiburg, Fachberater in der Schulaufsicht für das Fach Physik am Regierungspräsidium Freiburg und Lehrbeauftragter am Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Freiburg. Neben der Medienpädagogik beschäftigt er sich mit den Themen Differenzieren, forschendem Lernen sowie einer qualitativen Vermittlung der Quantenphysik. Für die von ihm angestoßene und begleitete Entwicklung des Medienkonzepts erhielt das Friedrich-Gymnasium den Externer Link: Deutschen Lehrerpreis 2016 in der Kategorie "Unterricht innovativ".